All you need is love

Am 31. Januar 2020 um Mitternacht scheidet Großbritannien endgültig aus der Europäischen Union aus. Andrew Sims, der Leiter des Berliner Kammerchors The Embassy Singers, hat für dieses Ereignis zu einem Flashmob aufgerufen. Gemeinsam wird die Europahymne vor dem Brandenburger Tor gesungen. 

Es ist 23:45 Uhr und der Platz vor dem Berliner Wahrzeichen füllt sich mit Menschen. Auf den Wangen von Andrew Sims haben sich bereits rote Flecken gebildet. Mit so vielen Teilnehmern hat er nicht gerechnet. Die Idee zu dieser Aktion war erst 48 Stunden zuvor geboren und nun sind schon mehrere hundert Menschen auf dem Platz. Um Mitternacht wollen sie den EU-Austritt Großbritanniens auf eine besondere Art begleiten. Der Brite Andrew Sims veröffentlichte seine Idee zum „Brexit Flash Mob“ vor zwei Tagen bei Facebook. Auch im Tagesspiegel erschien eine kurze Meldung. Andrew Sims plant die offizielle Hymne der Europäischen Union, die „Ode an die Freude“ gemeinsam zu singen um, wie er meint: “Unser Engagement für die europäische Idee zum Ausdruck zu bringen“

In einer Ecke des Platzes liegt eine kleine Pizzeria, die zu dieser Stunde noch geöffnet ist. An einem großen Tisch sitzt eine Gruppe von zwölf Frauen und singt. „Deine Zauber binden wieder…“, tönt es durch das Lokal. Die Sängerinnen proben die Europäische Hymne. Alle singen sehr gut. Die Damen zwischen 40 und 70 Jahren sind Mitglieder der Berliner Chöre The Embassy Singers und des Diplomatischen Chors Berlins ( The Diplomatic Choir of Berlin). Hier ist man sich einig, dass der Brexit eine Tragödie ist. Die 63-jährige Chorleiterin des Diplomatic Choirs of Berlin Barbara Leiter versucht den Geist der Aktion zusammenzufassen. „Ich bin in Kansas City geboren, wir sind hier heute nicht alle Engländer, wir sind Moslems, wir sind Christen, wir sind Hindus, wir sind Deutsche, wir sind alles. Wir singen gerne. Wir wollen zusammen singen“, sagt sie lachend. Es geht ihr darum Gemeinsamkeit zu zelebrieren. Die Mitglieder ihres Chors stammen aus über 20 Nationen.In der Pizzeria treffen weitere Gruppen von Sängern ein, die dem Aufruf von Andrew Sims gefolgt sind und noch ein bisschen üben wollen. Barbara Leiter schwebt von Tisch zu Tisch und versucht so etwas wie eine gemeinsame Probe auf die Beine zu stellen. 

Während die um die Ecke gelegene britische Botschaft still und dunkel  ist, strömen weiter Menschen auf den großen Platz. Einige schwenken Europa-Fahnen. Eine bunte Mischung vieler Nationen ist gekommen, auch viele Berliner. Ein einheimisches Paar ist sehr offensichtlich britisch gekleidet, mit  schweren Wollstoffen, markanten Mützen und einem Union Jack als Cape drapiert. „Wir lieben alles was mit Großbritannien zu tun hat. Wir mussten einfach heute hierher kommen, obwohl wir morgen sehr früh aufstehen müssen“, sagt die Berlinerin. 

Andrew Sims verteilt Notenblätter. „Altos hier, Tenors hier, Sopranos dort“, ruft der Chorleiter und die Menschenmenge stellt sich auf. Eine kurze, schnelle Probe beginnt. Sims steigt auf ein kleines Podest, das er sich mitgebracht hat. „Die erste Strophe singen wir ganz leise, Piano und die zweite Strophe dann ein bisschen lauter. Haben das alle verstanden?“, fragt Sims in die Menge.

„I’m from Birmingham, I can’t do piano. (Ich bin aus Birmingham, ich kann nicht leise sein) “, ruft Kathleen Smith und lacht. Die 65-Jährige lebt seit über 30 Jahren in Berlin und war bei der British Army angestellt. Die pensionierte Lehrerin ist eindeutig gegen den Austritt. Sie ist auch persönlich betroffen. Wie es mit ihrer Rente und der Krankenversicherung weitergeht, ist ungewiss. „I am loosing my health insurance. (Ich verliere meine Krankenversicherung)“, sagte sie am Vormittag in einem Interview mit dem Lokalsender rbb24. Mit derartigen Problemen sind die in Deutschland lebenden Briten jetzt konfrontiert. So haben viele von ihnen noch vor dem Austritt die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes hat es von 2016 bis 2018 insgesamt 17000 Einbürgerungen britischer Staatsangehöriger gegeben. In den 15 Jahren davor waren es zusammen nur 4800. 

Andrew Sims hat dazu eine eigene Ansicht: „Nur wegen dem Brexit wollte ich das nicht.“ Der 60-jährige Sims ist  Leiter des Kirchenchors der englischen St.George Gemeinde in Berlin und außerdem seit 1988 im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie als Übersetzer beschäftigt. Er kann aufgrund einer Ausnahmegenehmigung im Beamtengesetz in Deutschland bleiben. Sims war der erste Brite, der in Deutschland verbeamtet wurde, ohne ein Studium in Deutschland. „Wer wirklich betroffenen ist, das ist meine Familie, die in England lebt, meine Schwester und ihre Kinder. Für die ist es schlimm. Es ist wirklich alles sehr traurig“, sagt der Chorleiter.

Pünktlich um Mitternacht erklingt plötzlich die bekannte Melodie auf dem Pariser Platz. Drei Dudelsackspieler erscheinen und spielen die Melodie der „Ode an die Freude“. Dann ist es soweit und mehrere hundert Menschen schmettern aus vollem Halse die berühmten Zeilen „Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium…“ Die letzte Zeile der zweiten Strophe ist Andrew Sims an diesem Tag besonders wichtig. Dort heißt es : „..und wer`s nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund.“

Die englischsprachigen unter den singenden Menschen stimmen anschliessend spontan das nächste Lied an. „Auld Lang Syne“ ist ein Volkslied, das traditionell als Abschiedslied gesungen wird. Es wurde bereits am Mittwoch im Europaparlament von den Abgeordneten angestimmt. 

„We remain Europeans! Wir bleiben Europäer!“, ruft Andrew Sims mit erhobenen Armen und die Menge jubelt. „Ich fühle gleichzeitig Traurigkeit aber auch ein bisschen Stolz, dass so viele Menschen heute hierher gekommen sind“, sagt Sims. Die Teilnehmer stehen noch lange auf dem Platz zusammen, reden, diskutieren und vereinzelt sind auch immer wieder kleine Gesangseinlagen zu hören. „All You Need Is Love“, schallt es leise über den Platz bevor sich die Menschen wieder verstreuen in ein Europa, das ab heute um einen Partner ärmer ist.